Zeitkommentar - Betrachtungen zur Zeit von Neidthard Kupfer
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Geschrieben von Neidthard Kupfer
Veröffentlicht: 28. September 2021

Verbrechen gegen die Menschheit

Als ich den weiter unten zu lesenden und auf meine Netzseite übernommenen Eintrag zum 80. Jahrestag des Beginns der Leningrader Blockade noch einmal durchsah, fielen mir zwei Aspekte eines Sachverhalts auf, der mich schon lange stört. Hier der Text auf meiner Netzseite:
8. September - vor 80 Jahren begann die Leningrader Blockade

Ich habe die Blockade als das bezeichnet, was sie war und ist - als das größte Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte. Der erste Aspekt ist, dass in Publikationen, Reden und sonstigen Darstellungen der Holocaust oft den deutschen Kriegsverbrechen zugerechnet und als das größte dieser Verbrechen bezeichnet wird. Das ist aber nicht nur formal nicht korrekt. Der für den Holocaust als Verbrechen im Londoner Statut zu den Nürnberger Prozessen erstmals völkervertraglich und -rechtlich festgelegte Begriff lautet "Verbrechen gegen die Menschheit". Die Bezeichnung resp. Einordnung des Holocaust als Kriegsverbrechen relativiert ihn, weil sie den Täterkreis auf die Wehrmacht und die Waffen-SS reduziert und den Rechtsrahmen auf die für die Kriegsführung geltenden internationalen Konventionen - Haager Konventionen I bis XIII (1899, die Haager Landkriegsordnung ist die Nummer IV), Genfer Protokoll (1925) und Genfer Abkommen (1949) - beschränkt. Tatsache ist aber, dass der Holocaust ein gesamtstaatliches und gesamtgesellschaftliches Verbrechen war, basierend auf resp. resultierend aus einem ideologisch-rassistischen Konstrukt und unter Einbeziehung aller Ebenen und Instanzen der Legislative, Judikative und Exekutive einschließlich der sog. "vierten Gewalt", also der Medien, sowie der Wirtschaft und Industrie und von Teilen der Wissenschaft und Forschung.

Der ideologisch-rassistische Aspekt spielte natürlich bei der Planung und Umsetzung des Überfalls auf die Sowjetunion und bei der Kriegsführung als Vernichtungskrieg (was für den "Westfeldzug" nicht zutrifft) als rechtfertigend und motivierend wirkende Ideologie eine wesentliche und prägende Rolle - und somit auch für die Leningrader Blockade. Aber die de facto qualitative Gleichsetzung der Verbrechen Holocaust und Leningrader Blockade als Kriegsverbrechen relativiert beide. Der Holocaust wird so ein Kriegsverbrechen unter vielen, wenn auch das grausamste, und die Leningrader Blockade erscheint nicht ganz so schlimm, weil ja der Holocaust "viel schlimmer" war. Im Ergebnis sah man sich hierzulande nicht veranlasst, diesen Jahrestages auch nur zu erwähnen, geschweige denn, seines zu gedenken - die Kanzlerin hat sich ja schon - das muss genügen - zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion geäußert, was diese veritable Unverschämtheit zeitigte:
Angela Merkel und der 22. Juni

Der zweite Aspekt betrifft dies - hierzulande wird der Holocaust fast durchweg als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnet, wobei man sich darauf beruft, dass der im oben erwähnten Londoner Statut definierte Begriff in der englischen Bezeichnung "Crimes against humanity" lautet und dass das Wort "humanity" sowohl "Menschheit" als eben auch "Menschlichkeit" bedeuteten kann. Aber auch das ist nicht korrekt und das wird deutlich, wenn man den russischen Titel betrachtet - "Преступления против человечества". Das Wort "человечества" (Tschelowetschestwa von человек = Mensch) heißt "Menschheit", "Menschlichkeit" heißt im Russischen "человечность" (Tschelowetschnost). Das Londoner Statut als Statut des Internationalen Militärgerichtshofs war ein Annex des Londoner Viermächte-Abkommen der Vertreter der Hauptalliierten des Zweiten Weltkrieges, weswegen die russische Bezeichnung ebenso verbindlich ist wie die englische, aber die Intention der Benennung des Straftatbestandes eindeutig im Begriff beschreibt. Die Bezeichnung des Holocaust als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" ist eine - beabsichtigt oder nicht - verharmlosende Relativierung des Holocaust.

Warum das so ist, brachte Hannah Arendt 1963 im Epilog ihres Buches "Eichmann in Jerusalem", in der mir vorliegenden Ausgabe des Piper-Verlags vom August 1986 auf Seite 324, treffend auf den Punkt: »Das den Nürnberger Prozessen zugrunde liegende Londoner Statut hat, wie bereits erwähnt, die "Verbrechen gegen die Menschheit" als "unmenschliche Handlungen" definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" geworden sind - als hätten es die Nazis lediglich an "Menschlichkeit" fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.«

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