Zeitkommentar - Betrachtungen zur Zeit von Neidthard Kupfer
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Geschrieben von Neidthard Kupfer
Veröffentlicht: 24. Februar 2024

Русское поле экспериментов - Russisches Experimentierfeld

Dieser Text kann als zweite, allerdings noch immer vorläufige Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine verstanden werden. Hier ist die erste. Hier ein Hinweis zu dem Gemälde im Kopfbanner.

Seitens deutscher Politiker - und zwar nicht der sogenannten "Falken" wie Strack-Zimmermann oder Kiesewetter - fast aller Parteien, seitens der Publizistik in den deutschen Leit- und Qualitätsmedien, seitens der politik- und gesell­schafts­wissen­schaft­lichen Kommentatoren jeder Fakultät hört man immer wieder diese Antworte auf die Frage, wie es zum russischen Angriff auf die Ukraine kam - weil der russische Präsident mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht und Gewalt den Ruhm und nicht zuletzt die Größe des Russischen Reiches und der Sowjetreichs wiederherstellen will. Diese Antwort ist von wirklich erlesener Einfalt oder - im Fall besseren Wissens - von manipulativer Verlogenheit, weil sie komplett ahistorisch und apolitisch ist. Einen geopolitisch, militärisch und wirtschaftlich hochkomplexen Vorgang wie einen Krieg auf das Bild eines "bösen" Mannes, der aus Eitelkeit oder Wahnsinn ein Land überfällt, zu reduzieren ist strunzdumm, wenn nicht gar knalldoof - oder zutiefst verlogen. Aber das ist eine seit 1945 in Deutschland gepflegte Tradition und es sagt mehr über die nämlichen Politiker und Kommentatoren aus als über den Krieg, Russland und Putin, wenn auf dieses Erklärungsmuster zurückgegriffen wird. Zugleich schwingt stets - insbesondere bei Politikern und Kommentatoren westdeutscher Provenienz - das russophobe Sterotyp vom "bösen Russen" mit, inklusive der unterschwelligen Haltung, dass der "Führer" vielleicht doch irgendwie recht hatte mit seinem Ostfeldzug gegen den "russischen Bolschewismus".

Ich habe oft und ausführlich genug die historischen und geostrategischen Hintergründe erörtert, die zu diesem Krieg führten. Darum soll es in diesem Text nicht, sondern um seine derzeit erkennbaren beziehungsweise absehbaren Folgen für Russland, und zwar ohne Spekulationen über Sieg oder Niederlage. Vor zwei Jahren, am 24. Februar 2022, begann die »специальная военная операция«, die sich schnell zu einem Krieg ohne akzeptable Ausstiegsoption jenseits der Kapitulation für die Russische Föderation entwickelte. Der Krieg begann mit einer Reihe ebenso krasser wie fataler Fehleinschätzung von russischer Seite hinsichtlich der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft. Ich weiß nicht, was bei den zuständigen, russischen Geheimdiensten Служба внешней разведки Российской Федерации (SWR) und Главное разведывательное управление (GRU) schieflief. Tatsache ist, dass jeder, der ein wenig Ahnung von militärischer Strategie hat, weiß, dass man einen bewaffneten Konflikt nicht mit knapp 190.000 Mann unter Waffen gegen eine Armee mit knapp 200.000 Soldaten beginnen kann. Das Verhältnis sollte, da sind sich Militärstrategen einig, im Fall eines militärtechnisch ausgewogenen Verhältnisses 3 zu 1 zugunsten des Angreifers betragen. Alternativ kann eine militärtechnisch deutlich überlegene Macht eine Intervention beziehungsweise einen Angriff wagen, wobei die technologische Überlegenheit aber auch keine Garantie für einen Sieg ist. Das haben der Vietnamkrieg und die Kriege in Afghanistan seitens der UdSSR und später seitens der USA und der ISAF gezeigt. Die Russische Föderation begann ihre СВО, die sich schnell zum Stellungskrieg entwickelte, auf etwa demselben militärtechnologischen Niveau, mit dem die Ukraine ihr entgegentrat. Wenn man von speziellen Waffen wie Gleitbomben absieht, standen sich mit Panzern, Schützenpanzern und Artillerie zum großen Teil die gleichen Waffen gegenüber, die in der UdSSR entwickelt und gebaut und seitdem allenfalls leicht modifiziert und modernisiert wurden. Den einzigen Vorteil hatte die Föderation bei den Luftstreitkräften, den sie aber nicht wirklich ausspielen konnten, weil die Ukraine schnell von den USA, Deutschland und der NATO mit modernen Luftabwehrwaffen aufgerüstet wurden.
Um sich ob der eigenen Entschiedenheit selbst auf die Schulter zu klopfen, redet man im Westen gerne davon, Putin hätte die Bereitschaft der NATO, der USA und der EU unterschätzt, der Ukraine beizustehen und die "westlichen Werte" - was immer man darunter verstehen mag - und die Demokratie westlichen Zuschnitts zu schützen. Trifft das wirklich zu? Waren Putin und die politische Führung der Föderation tatsächlich so naiv, die Bereitschaft der NATO und der USA, flankiert von der Europäischen Union, falsch einzuschätzen, nämlich die Gelegenheit zu nutzen, endlich Russland zu "besiegen" und zu teilen, und zwar bis zum bitteren Ende? Freilich redet man im Westen heute zumindest in offiziellen und offiziösen Verlautbarungen nicht mehr, wie man es früher tat, von »Dissolution« im Sinne von "Liquidation", sondern von »Decolonization«, das klingt nicht so aggressiv und - dem woken Wording angemessen - moralisch respektabel. Gemeint ist allerdings dasselbe. (Anmerkung: Es ist ein perfider Treppenwitz der Geschichte, dass die Antisemiten dieser Welt den Begriff in Bezug auf Israel übernommen haben.)

»Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden, das aller Wahrscheinlichkeit nach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden Zentralasiaten hineingezogen würde.«
Brzeziński, Zbigniew: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Hier im Original nachzulesen auf Seite 46 (PDF-Seite 37).

Wikipedia: Dissolution of Russia
KSZE: Decolonization of Russia to Be Discussed at Upcoming Helsinki Commission Briefing
Telepolis: Russland dekolonisieren. Will der Westen die Russische Föderation zerstückeln?
Telepolis: Es geht um die Zerteilung der Russischen Föderation

Natürlich waren Putin und die föderale Administration nicht so naiv. Es ist ja nicht so, dass die USA und die NATO ein Geheimnis daraus gemacht hätten. Auch hatte man Fakten geschaffen, zum Beispiel am 24. März 2021 mit Selenskis »präsidialem Ukas über die Strategie der Deokkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Territoriums der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol«, den er ohne eine Rückversicherungs seitens der US-Politik und ihrer Geostrategen nicht hätte erlassen können, oder im November 2021 mit der U.S.-Ukraine Charter on Strategic Partnership. Auch in der RAND Corporation war man fleißig, was geostrategische Meisterstücke wie Extending Russia - Competing from Advantageous Ground nebst einer Kosteneinschätzung zeitigte ("extend" meint in diesem Kontext "eindämmen"). Zitat:

»This report examines a range of possible means to extend Russia. As the 2018 National Defense Strategy recognized, the United States is currently locked in a great-power competition with Russia. This report seeks to define areas where the United States can compete to its own advantage.
1.) What are Russia's greatest anxieties and vulnerabilities?
2.) In what ways can these anxieties and vulnerabilities be exploited and extend Russia?
3.) What are the costs and risks associated with each option, and what are the prospects of success?«

Die USA und ihre geostrategischen Vasallen haben also über Jahre hinweg systematisch eine Falle aufgebaut, wofür sich, wie schon Zbigniew Brzeziński beschieb, die Ukraine geradezu und auch selbst von sich aus anbot. Putin und die föderale Administration sind jedoch nicht, wie manche Kommentatoren vermuten, in diese Falle "gestolpert", sondern ich denke, dass sie recht kurzfristig beschlossen - ich mache das zeitlich an Putins Äußerungen auf der Großen Pressekonferenz des Präsidenten der Russländischen Föderation am 23. Dezember 2021 fest - mit voller Absicht in diese Falle zu laufen, mehr dazu hier. Sowas tut man nicht - natürlich auch Putin nicht - aus Naivität, sondern wenn man keinen anderen Ausweg sieht. Natürlich wusste Putin, dass da eine Falle ist, aber ich vermute, dass er keinen anderen Weg sah als "Augen zu und durch" in der Hoffnung, die Falle überwinden zu können. Aber das hätte - nicht nur in technischer, sondern insbesondere auch in strategische Hinsicht - einer wesentlich besseren Vorbereitung, einer wesentlich gründlicheren, geheimdienstlichen Aufklärungsarbeit und damit einer insgesamt deutlich größeren, militärischen Schlagkraft bedurft. Natürlich ist das von einem arg in die Jahren gekommenen Artillerie-Feldwebel des MSR-7 der NVA leicht gesagt, nichtsdestoweniger umreißt diese Beschreibung das grundlegende Problem der Operation, das sich nur mit größter Mühe unter erheblichen Opfern auf beiden Seiten halbwegs handhaben lässt.

So nachvollziehbar die Motivation der Föderation in Anbetracht der Vorgeschichte insbesondere seit dem Ende der UdSSR zu einem "Befreiungsschlag" ist, so berechtigt diese Motivation angesichts der seitens der Ukraine forcierten Ereignisse im Donbass ist, so verständlich sie ist in Hinblick auf befürchtete und mögliche Folgen der geostrategischen Pläne der USA für die Föderation, so falsch war die Entscheidung, ihn - den "Befreiungsschlag" - mit der sogenannten "Spezialoperation" zu versuchen. Genau das - das nach meiner Sicht der Dinge absichtsvolle In-die-Falle-laufen - halte ich für einen gewaltigen Fehler - nicht zuletzt deshalb, weil ein russisches Phänomen zu befürchten war, das man "Potjomkinsche Dörfer" nennt - zu Recht, wie wir jetzt wissen. Die gab es zwar nie wirklich, aber die Legende beschreibt ein Phänomen, das für Russland geradezu typisch ist, nämlich die Fehlinformation der russischen Führung sowohl im Zarenreich als auch in der UdSSR und nun offensichtlich auch in der Föderation über den tatsächlichen Zustand ihres Militärs, aber auch der technischen und industriellen Infrastruktur. Ich erinnere an die Pleite mit der Kinschal-Hyperschallrakete und von den 2.300 Armata T-14-Panzern, die im russische Heer bis Ende 2020 in Dienst gestellt werden sollten, wurde kein einziger auf dem Schlachtfeld gesehen, stattdessen jede Menge T-72 und T-64 sowie reaktivierte T-55, die schon zu meiner Zeit in der NVA Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre als veraltet galten. Auch der T-90 - der modernste Panzer, den die Russen in relevanten Mengen aufbieten können - hinterlässt mit dem Spinning Turret Syndrome, den durchdrehenden Geschütztürmen, einen seltsamen und in der Folge verlustreichen Eindruck. Die Föderation musste erhebliche Verluste bei der Schwarzmeerflotte hinnehmen - hinnehmen im Wortsinn gemeint, denn es blieb ihr nur übrig, sich aus der Reichweite der ukrainischen Waffen zurückziehen. Besonders die Versenkung des Flaggschiffs der Flotte, des Kreuzers Moskwa, war ein schwerer Schlag. Die Statistik der Verluste der Schwarzmeerflotte ist dramatisch, was auch die hier dokumentierten Verluste des Heeres betrifft. (Das ist keine Propaganda, sondern mit Fotos belegt.)
Diese technischen Verluste sind immer auch Verluste an Menschenleben und die sind extrem hoch. Selbst wenn man die propagandistischen Über- beziehungsweise Unterschätzungen beider Seiten für die jeweils gegnerische und die eigene Seite außer Acht lässt, ist klar, dass die Verluste auf russischer Seite schon jetzt, nach zwei Jahren, beispielsweise die Verluste im zehn Jahre dauernden Afghanistan-Krieg der UdSSR um ein Vielfaches übersteigen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Konflikt schnell zu einem, an den Fronten festgefahrenen Stellungskrieg wurde, der stark an die Westfront im Ersten Weltkrieg erinnert.
Schon nach kurzer Zeit erinnerte mich der Kriegsverlauf an die russischen Pleiten im Zehnten Russisch-Türkischen Krieg, bekannt als Krimkrieg (1853 bis 1856), im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 und im Sowjetisch-Finnischen Krieg von 1939/1940, bekannt auch als Winterkrieg - der brachte Hitler auf die Idee, die UdSSR wäre innerhalb weniger Wochen zu besiegen. Allerdings ist Putin nicht Stalin und keiner seiner Generäle ähnelt auch nur ansatzweise Schukow, Rokossowski oder Konjew.

In Russland erfreuen sich die черномырдинки (Tschernomyrdinki) großer Beliebtheit, wie meine Russischlehrerin bestätigte, kennt praktisch jeder Russe einige dieser Sprüche aus Reden von Wiktor Stepanowitsch Tschernomyrdin, nach dem sie benannt sind und der von 1992 bis 1998 Ministerpräsident der Russländischen Föderation war. Die in dieser Situation passendsten scheinen mir diese zu sein: »Хотели как лучше, а получилось как всегда.« (Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.) »Никогда такого не было, и вот опять.« (Das ist noch nie passiert, und hier ist es wieder.) »Мы выполнили все пункты: от А до Б.« (Wir haben alle Punkte erledigt: von A bis B.) Allerdings ist die Situation ganz und gar nicht lustig.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Kriege dieser Art überhaupt noch im quasi "klassischen" Sinn zu gewinnen sind, womit ich Siege nach dem Muster der Koalitionskriege (1792 bis 1815) und des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/1871 meine. Die USA haben trotz ihrer gewaltigen, technischen und militärischen Übermacht und trotz nicht minder gewaltiger, finanzieller Investitionen in diese Konflikte weder den Korea- noch den Vietnamkrieg, weder den Krieg in Afghanistan noch den Dritten Golfkrieg gewonnen. Ich fürchte, auch der Ukrainekrieg ist nicht zu gewinnen - von keiner Seite, zu befürchten ist ein ewig anhaltender, asymmetrischer Konflikt.

Es gibt einige frühe Lieder von Jegor Letow aus den Jahren 1984 bis 1990, die mittlerweile eine von mir seinerzeit, als ich begann, mich mit Letows Werk zu befassen, nicht erwartete, deprimierende und zutiefst traurige Aktualität gewonnen haben. Dazu gehört insbesondere das Lied »Русское поле экспериментов« in dem Letow seine Sicht auf die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts als "russische Experimentierfeld" beschreibt. Heute befürchte angesichts ich der augenscheinlich aussichtslosen Lage, dieser Bruderkrieg gegen die Ukraine könnte Russland auf das Experimentierfeld zurückführen, wenn er es nicht schon getan hat.

Jegor Letow schrieb das Lied - er war damals knappe 24 Jahre alt - Mitte 1988, ein konkretes Datum ist nicht überliefert. Es erschien zum ersten Mal auf dem gleichnamigen Album, das am 14. Oktober 1989 im ГрОб-Studio fertiggestellt wurde, im Selbstverlag als магнитоальбом [2] auf Musikkassetten, hier in der 2007 erschienen CD-Version. Auf einem öffentlichen Konzert spielte er es zum ersten Mal am 6. März 1990 in einem Solokonzert im ДК Профсоюзов (Kulturhaus der Gewerkschaften) in Irkutsk. Davor hatte er das Lied ab Oktober 1988 mehrere Male in Charkow, Leningrad und Moskau als квартирник [2] in kleinen, privat organisierten Konzerten vorgetragen. Mit Graschdanskaja Oborona war es zum ersten Mal am 17. November 1994 in Woronesch im ДК им. 50-летия Октября (Kulturhaus namens "50 Jahre Oktober") zu hören, das es unter diesem Namen bis 2021 gab.
Originaltext: bei ГрОб-Хроники
Studio: akustische Version
Studio: elektrische Originalversion
Liveversion: akustisch im Klub "Полигон", Sankt Peterburg, 24.05.1997
Liveversion: Апельсин. Электричество), Moskau, Club Apelsin, 19.11.2006
Liveversion: Апельсин. Акустика, Moskau, Club Apelsin, 12.02.2006


Ein ergreifendes Messer, um sein Fleisch zu quälen.    [3]
Ein ergreifendes Messer, um sein Fleisch zu quälen,
freiwillig die Finger einklemmen, bis sie bluten,
tapfer Lutscher am Stiel genießen.
Sie stopfen sich absichtlich die Taschen voll
mit toten Mäusen, lebenden Schwänzen,    [4]
Schokoladenbonbons,
und wunderhaft nutzlosem Zeug.    [5]
Auf einer patriarchalischen Müllhalde veralteter Vorstellungen,
verwendeter Bilder und höflicher Worte.
Um das eigenes Leben zu beenden, die ganze Welt vernichten.
UM DAS EIGENE LEBEN ZU BEENDEN - DIE GANZE WELT VERNICHTEN!    [6]

... die Ewigkeit riecht nach Öl,
... die Ewigkeit riecht nach Öl.

Wie Raureif, ein barmherziges Lachen ...
Wie Raureif, ein barmherziges Lachen ...
Wie Raureif, ein barmherziges Lachen ...
Ruhmreich fallen auf ...
auf ...
auf dem RUSSISCHEN EXPERIMENTFELD.

Geographie der Gemeinheit,
Rechtschreibung des Hasses,
Apologie der Ignoranz,
Mythologie des Optimismus,
Haubitzengesetze der Tugend,
ein großartiges Gelage der Klugheit.
Aus dem Mund eines Kindes spricht die Grube,
aus dem Mund eines Kindes spricht eine Kugel.

... die Ewigkeit riecht nach Öl,
... die Ewigkeit riecht nach Öl.

Die Kunstfertigkeit, überflüssig zu sein, wie ich...
Das Geschick des Geliebtwerdens, wie eine Schlinge...
Die Meisterschaft, global zu sein, wie ein Bratapfel.
die Kunst, rechtzeitig zur Seite zu treten.
die Kunst, ein Außenseiter zu sein,
die Kunst, ein Außenseiter zu sein.

Der neueste Ofenreiniger,
aus eigenem Willen zu ersticken.
Der neueste Seilreiniger
vom üblen Geruch ungewaschener Hälse.
Das neueste Mittel, Schuldige zu finden,
das neueste Mittel, Schuldige zu finden.

DAS RUSSISCHES EXPERIMENTIERFELD

Hinter der geöffneten Tür - Leere.
Das bedeutet, dass jemand hinter dir her ist.
Das bedeutet, dass dich jetzt jemand ...
braucht.

Und es schneit noch immer, und es schneit immer wieder,
das russische Feld verströmt Schnee.

Andere wurden in Verpackung kleiner Augen begraben,
andere wurden in Verpackung aus Zeitungen begraben.

Und die Tatsache, dass ein Ochse im Schlachthof getötet wurde,
das ist die Freude aller, der Stolz aller.
Allgemeiner Hass, allgemeiner Wille,
totaler Wille und totale Altersschwäche.

Sein Grab bis zum Rande mit sich selbst zu füllen,
bedeutet, die Erde zu erben.
Was bedeutet es, die Erde zu erben?
Es bedeutet, die Geduld zu erschöpfen.
Was zu beweisen war,
was zu beweisen war.

Durch den Türspion - durch das Schlüsselloch
geniale Gedanken - Weltkriege,
inoffizieller Nabel der Erde.
Emaillierte Teile des Kopfsystems,
instinktive Freiwillige
im Namen des Universums und der Brotkruste.
Menschen mit Großbuchstaben -
das Wort "Volk" wird groß geschrieben.

Das Hakenkreuz des Glaubens verzerrte das Antlitz,
das babylonische Alphabet klebte an den Fingern.
Eine historisch begründete Methode,
die rohe Erde zu verschlingen.
Ist es nicht das, was wir brauchen?!
Ist es nicht das, was wir brauchen?!

Und am Morgen wachten sie unweigerlich auf.
Keine Kälte, kein Schmutz,
nannten die Dinge bei ihrem richtigen Namen,
säten das Gute, das Kluge, das Ewige.
Alles wird gesät, alles wird benannt,
das Essen serviert - Ehre wem Ehre gebührt.
Zuerst war die Frucht der Erleuchtung
und als Zweites - die blutrünstigen Jungs.

Der ordengeschmückte Herr der siegreichen Welt,
der verdienstvolle Herr des Rotbanners des Schreckens,
ein gerechter Feiertag für rechtschaffene Bürger,
eine geschärfte Sichel für reife Ähren.

Die Grube als Prinzip für den Weg zur Sonne,
Tränen können den Brei nicht verderben.

Ein Pferdeschlitten voller mädchenhafter Schande,
Laken voller Kindergestank,
Mädchenaugen, Kuckuckstränen
und auch allerlei andere Dinge.

Wer starb also in der Hauptschlacht,
wer starb in einer genialen Niederlage
für eine volle Tasse Mitleid
in der Stalingrader Schlacht der bestialischen Gier?

Das Flugzeug zerbarst grinsend
in den Hügeln des gelobten Landes
Das Flugzeug zerbarst grinsend
in den Hügeln des gelobten Ländchens.

Und meine Liebe habe ich eigenhändig
befreit von weiterem, unvermeidlichen Kummer.
Ich lockte sie mit einem Pfefferkuchen,
ich lockte sie mit einem Pfefferkuchen.
Ich schändete sie mit einem betrunkenen, grausamen Stiefel
und hing an einer Wolke wie ein Kind.
IHRE UNGELIEBTE PUPPE
IHRE UNGELIEBTE PUPPE
IHRE UNGELIEBTE PUPPE
IHRE UNGELIEBTE PUPPE

Wie Raureif, ein barmherziges Lachen ...
Wie Raureif, ein barmherziges Lachen ...
Wie Raureif, ein barmherziges Lachen ...
Wie Raureif, ein barmherziges Lachen ...
Ruhmreich fallen auf...
auf...
auf dem RUSSISCHEN EXPERIMENTFELD.

Die Ewigkeit riecht nach Öl.
Übersetzung: Neidthard Kupfer

[1] Das Banner zeigt einen Ausschnitt des Gemäldes Чумацкий тракт в Мариуполе (Tschumaki-Trakt in Mariupol) von Archip Iwanowitsch Kuindschi. Zur Erläuterung des Gemäldetitels - das Wort тракт leitet sich vom deutschen, hierzulande aber aus der Mode gekommen Begriff Trakt ab, der eine lange Verbindungsstraße oder eine Magistrale bezeichnet. чумаки (Tschumaki) waren vom 16. bis Ende des 19. Jahrhunderts fahrende Händler, die entlang der Trakte mit Ochsenkarren Wein, Salz, Lebensmittel und andere Handelsgüter transportierten, die Tschumaki eines Wagentrecks wählten einen Bolschak als Anführer. Sie waren hauptsächlich im Süden Russlands am Don und in Neurussland entlang der Routen zwischen Asowschem und Schwarzem Meer tätig und sppielten eine wichtige Rolle im Handel in diesen Regionen. Das Wort чумаки leitet sich vom türkischen čоmak ab, das einen langen Wander- und Streitstock bezeichnet. Beides war auf den Touren notwendig, einerseits um auf in der Regel unbefestigten Wegen voranzukommen, die insbesondere während der Rasputiza, der berüchtigten russischen Regenzeit, verschlammt und schwer begehbar waren. Andererseits dienten die Stöcke zur Abwehr von Dieben und Räuben.
Kuindschi war ein herausragender und sehr produktiver Maler und ein bedeutender Vertreter der Передвижники (Wanderer), der auch Isaak Iljitsch Lewitan, Ilja Jefimowitsch Repin, Iwan Iwanowitsch Schischkin und etliche andere angehörten. Die Peredwischniki entstanden als Protest gegen die restriktiven Vorgaben der der Kaiserlichen Kunstakademie in Sankt Petersburg und sie revolutionierten die russische Malerei, indem sie den Realismus in diese Kunstform einbrachten, die bis dahin von religlöser und Ikonenmalerei sowie von herrschaftlicher Auftragsmalerei geprägt war. Die Selbstbezeichnung als "Wanderer" leitet sich von zwei Tatsachen ab. Einerseits verließen die Maler die Malstuben und begaben sich auf Wanderschaft durch ganz Russland, woraus fantastische Landschaftsgemälde und eindrucksvolle Gemälde des russischen, ländlich-bäuerischen Lebens entstanden, und zwar in einer Art und Qualität, wie sie bis dahin noch nie gesehen wurde. Andererseits gründeten die Peredwischniki eine Genossenschaft zur Organisation von Wanderausstellungen für jedermann im ganzen Reich insbesondere auch außerhalb der Kunstmetropolen Sankt Petersburg und Moskau, was nicht zuletzt einen Protest gegen den musealen Kunstbetrieb war. Größter Förderer der Peredwischniki war der russische Kaufmann (Moskauer Handelsbank, Moskauer Industrie- und Handelsgesellschaft) Pawel Michailowitsch Tretjakow. Er erwarb die Kunstwerke direkt von den Malern und besaß in seiner Sammlung beispielsweise die vollständigen Kollektionen von Perow, Kramskoi, Repin, Surikow und Lewitan. Aus seiner Sammlung, die Tretjakow testamentarisch der Stadt Moskau hinterließ, entstand die berühmte und einzigartige Tretjakow-Galerie, mit der eigenlich nur die Londoner Tate Gallery mithalten kann.

[2] Ein магнитоальбом (Magnotoalbom, von магнитофонный альбом, das bedeutet magnetofonisches Album) war ein Musikalbum, das von Musikern und Bands, denen der Zugang zum staalichen Musikverlag Мелодия (Melodija) verwehrt war, auf einem Masterband eingespielt und auf Musikkassetten kopiert wurde. Diese wurden - in aller Regel und zum Selbstkostenpreis - im Freundes- und Bekanntenkreis verteilt und in die ganze UdSSR verschickt.
Der Begriff квартирник bedeutet wörtlich übersetzt "Untermieter" und bezeichnete auch Musiker, die in Wohnungen Konzerte gaben. Die Kwartirnik-Konzerte waren in der UdSSR ein weit verbreitetes Phänomen, das es Künstlern jenseits des staatlichen Kunstbetriebs inoffiziell-öffentliche Auftritte zu geben. Etliche, später auch über die Grenzen der Föderation hinaus bekannt oder gar legendär gewordene Musiker wie Jegor Letow, Boris Grebenschtschikow (Аквариум), Wiktor Zoi (Кино) und Juri Schewtschuk (ДДТ) begannen ihre musikalische Laufbahn als Kwartirniks. Das sah in Letows Fall so aus, die Frau auf den Bildern ist Janka Djagilewa.

[3] Textzeile im Original: »Трогательным ножичком пытать свою плоть« - трогательный heißt ergreifend, rührend im Sinne von emotionaler Ergriffenheit oder Rührung.

[4] Textzeile im Original: »Мёртвыми мышатами, живыми хуями« - хуями ist ein russischer Mat-Ausdruck, als Flexion abgeleitet von хуй, was wörtlich übersetzt Schwanz, Penis als Vulgärausdruck bedeutet.

[5] Textzeile im Original: »И нерукотворными пиздюлями« - нерукотворными als wunderhaft abgeleitet vom russischen Begriff нерукотворные für das griechische Acheiropoíeta, das bedeutet sowohl in der griechischen als auch in der russischen Variante wörtlich übersetzt nicht von Hand gemacht. Damit sind in der Orthodoxie Ikonen und heilige Bilder gemeint, deren Ursprung - gleichwohl sie rein materiell gesehen von Menschen geschaffen wurden - als göttlichen Ursprungs angesehen werden und den Menschen von Gott geschenkt wurden. Diese Bilder sind somit nicht das Werk des Künstlers und haben den Status von heiligen Relikten. Ein in der russischen Orthodoxie sehr bekanntes Werk dieser Art ist die im Jahr 1658 entstandene Ikone "Спас нерукотворный" (Der Erlöser, nicht von Hand gemacht) von Simon Fjodorowitsch Uschakow, genannt Pimen, die tatsächlich von außerordentlicher Qualität ist, insbesondere auch im Vergleich zu seinen anderen Werken.
Acheiropoíeta @Wikipedia (de): https://de.wikipedia.org/wiki/Acheiropoieton
Uschakow @Wikipedia (en): https://en.wikipedia.org/wiki/Simon_Ushakov
Ikone "Спас нерукотворный": https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ushakov_Nerukotvorniy.jpg
Vom Substantiv нерукотворные leitetet sich das Adjektiv нерукотворный in der Bedeutung von wunderbar, wunderhaft, wundersam ab, das im allgemeinen Sprachgebrauch in der Funktion eines Präfix in der Form von "wunder-" oder als deskriptives Adjektiv zur Beschreibung wunderbarer Dinge verwendet wird. Quelle Wiktionary (ru): https://ru.wiktionary.org/wiki/нерукотворный
Пиздюлями ist als Flexion abgeleitet vom russischem Mat-Ausdruck, пизда, einem Vulgärausdruck für weibliche Genitalien, auch auch für Frau. Der Begriff ist ein Substantiv im Plural, übernommen nach пиздю-лина, was ein Ding als solches oder etwas Nutzloses bezeichnet, zum Beispiel »Что это за пиздюлина?« (Was ist das für ein Teil?). Insgesamt ist die Zusammenstellung der Begriff zu нерукотворными пиздюлями eine regelrechte Blasphemie und klingt in russischen Ohren extrem provokant, was insbesondere hinsichtlich der zahllosen Coverversionen des Liedes, die im Lauf der Jahre ab etwa 2000 entstanden, bemerkenswert ist. Allerdings heißt das nicht, dass Letow Atheist oder Verächter von Spiritualität oder Religion gewesen wäre. Er war ein sehr spiritueller Mensch und je älter er wurde, desto stärker prägte sich dieser Wesenszug aus.

[6] Die Schreibung in Versalien entspricht der im russischen Originaltext.
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