Zeitkommentar - Betrachtungen zur Zeit von Neidthard Kupfer
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Geschrieben von Neidthard Kupfer
Veröffentlicht: 17. März 2020

Das Hufeisen und das Wiehern der Politprediger

Von Zeit zu Zeit, nämlich immer dann, wenn Wahlen anstehen und Ergebnisse zeitigen, die man sich in den "etablierten" Parteien sicherlich nicht wünschte, wird in den medialen Nischen, die sich noch für diskursfähig halten, die Debatte um die sogenannte "Hufeisentheorie" reanimiert, und zwar im Tenor genauso dämlich, wie sie schon immer war, seit Uwe Backes im Jahr 1989 das Hufeisenschema für seine Extremismustheorie übernahm - er hat es nicht erfunden, sondern von Armin Mohler adaptiert.

Das Thema war praktisch jedem Vertreter der sogenannten Leit- resp. Qualitätsmedien eine mehr oder weniger lange Erörterung wert, beginnend bei der Zeit, wo ein gewisser Johannes Schneider ("hat Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und German Studies in St. Louis studiert") am 28. Oktober 2019 unter dem Titel "Das Hufeisen muss runter" den diskursiven Einstand in die x-te Runde dieser sinnlosen, weil ausschließlich politischer Opportunität geschuldeten Debatte gab. [1 Quelle] Der Text begeisterte offensichtlich auch Ruprecht Polenz, von April bis November 2000 Generalsekretär der CDU und Träger der Auszeichnung "Goldener Blogger". [2 Quellen]

Es geht natürlich noch viel dämlicher, den Beweis dafür erbrachte ein Finn Rütten ("studierte [...] Sportjournalistik und Sportmanagement") am 11. Februar 2020 im Stern unter dem Titel "Linksextrem und rechtsextrem gleichsetzen? Warum die Hufeisentheorie Unsinn ist" und ließ die geneigten Leser Folgendes wissen:

»Linksextremismus ist scheiße. Nur: Es gibt verschiedene Nuancen von scheiße. Man muss und sollte die Abstufungen herausarbeiten dürfen, ohne damit das eine völlig reinzuwaschen. Körperverletzung und Mord sind beide schlecht, aber das eine ist halt noch schlechter als das andere.« [3 Quelle]

Auch wenn dem Rütten höchstwahrscheinlich weder der eine noch der andere Name bekannt sein dürfte - seine "Herausarbeitung der Abstufungen" bedeutet demnach, dass Karl Radeks Ermordung im sowjetischen Gulag Nertschinsk weniger "schlecht" für ihn und die Nachwelt war als Ernst Thälmanns Ermordung im deutschen Konzentrationslager Buchenwald. [4 Hinweise] Ich weiß nichts Näheres über die geistige Verfassung des Rütten, aber auf einen solchen Irrsinn muss man erst einmal kommen.

Grundsätzlich - es gibt keine "Hufeisentheorie". Es gibt ein Hufeisenschema, das der Politikwissenschaftler Uwe Backes, Forschungsschwerpunkt Extremismus, in seinem Buch "Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie." das 1989 im Verlag Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften erschien. (Springer Science+Business Media, nicht zu verwechseln mit Axel Springer SE). Auch Backes' Kollege Eckhard Jesse, ebenfalls Forschungsschwerpunkt Extremismus, verwendet das Schema gelegentlich. Allerdings hat Backes - anders, als fast alle leit- und qualitätsmedialen Politfeuilletonisten mit solider Halbbildung gerne behaupten - das Hufeisenschema nicht erfunden, sondern bei Armin Mohler aus dessen Dissertation "Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932" übernommen, der die Metapher vom Hufeisen für das politische Spektrum seinerseits bei Adolf Ehrt und Julius Schweickert aus deren Schrift "Entfesselung der Unterwelt. Ein Querschnitt durch die Bolschewisierung Deutschlands" aus dem Jahr 1932 entlehnte, wo es allerdings in einem völlig anderen Kontext stand. Ehrt und Schweickert standen der Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten (KGRNS) und der aus dieser hervorgegangenen Schwarzen Front um Otto Strasser nahe, die einen antikapitalistischen nationalen Sozialismus im Deutschen Reich etablieren wollte sowie eine Verbrüderung und ein antiwestliches Bündnis mit der Sowjetunion anstrebte. Strasser stellte sich nach seinem Eintritt in die NSDAP im November 1925 immer wieder, auch öffentlich, gegen Adolf Hitlers politisches Programm, besonders in Sachen Wirtschafts- und Außenpolitik. Strasser trat Anfang Juli 1930 aus der NSDAP aus, publizierte seine Kampfschrift "Die Sozialisten verlassen die NSDAP" und gründete im September 1931 aus der KGRNS heraus die Schwarzen Front. Wenige Tage nach der Machtübergabe an die NSDAP wurde die Schwarze Front am 15. Februar 1933 noch vor der KPD (28. Februar 1933) verboten und die Mitglieder und der Anhänger der Schwarzen Front sahen sich einer scharfen Verfolgung durch die Gestapo ausgesetzt. Otto Strasser, den Goebbels als "Hitlers Feind Nummer eins" bezeichnet haben soll, flüchtete zunächst nach Österreich, später nach Prag und sein Exil brachte ihn schließlich nach vielen Umwegen und etlichen Attentatsversuchen gegen ihn seitens der Gestapo und der SS, denen er stets mit knapper Not entging, nach Kanada.

In wesentlichen Punkten zur Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik war die Schwarze Front sozusagen die rechte Fraktion des Nationalbolschewismus, dessen linker Teil der aus der Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) hervorgegangene Bund der Kommunisten um Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim und ab Januar 1930 die Gruppe Sozialrevolutionärer Nationalisten (GSRN) um Karl Otto Paetel und Fritz Wolffheim waren. Karl Otto Paetel beschrieb Otto Strasser als Nationalbolschewisten von ihm ähnlicher Gesinnung, ich habe allerdings keinen Beleg für personelle oder organisatorische Überschneidungen oder Begegnungen zwischen beiden Gruppen gefunden. [5 Hinweise/Anmerkungen] Ehrt und Schweickert verwenden die Metapher vom Hufeisen zur Verortung der Schwarzen Front im politischen Spektrum und zur zur Beschreibung ihrer Position quasi zwischen den Polen, wobei der linke Pol die Position KPD und der rechte die der NSDAP verkörperte: »Die Gegensätze von 'Links' und 'Rechts' heben sich auf, indem sie eine Art Synthese eingehen unter einmütiger Ausscheidung des 'Bürgerlichen'. Die Lage zwischen beiden Polen gibt den Spannungscharakter der Schwarzen Front am besten wieder.« (zitiert nach Backes: Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten, 6 Hinweise/Anmerkungen)

Der Grundirrtum - oder aber die diffamierende Absicht - in Bezug auf das Hufeisenschema liegt in der Behauptung, es setze Links- und Rechtsextremismus gleich. Belesenere oder mit kleinem Latinum ausgestattete Zeitgenossen der Journalismusbranche wie Gerd Appenzeller reden dann gerne von "Äquidistanz", also derselben Entfernung eines Punktes von zwei anderen, wobei der Ausgangspunkt der Betrachtung die sogenannte gesellschaftliche resp. politische Mitte ist. [7 Quelle] Es ist im Grunde ganz einfach - wenn das Hufeisenschema eine Gleichsetzung implizierte, wäre es ein Balken oder ein Strich, aber eben kein Hufeisen. Grundsätzlich ist ein Schema eben das - ein formales Modell in Gestalt einer beschreibenden Zeichnung oder einer ähnlich gearteten Darstellung und als solches ist es abstrahierend und simplifizierend. Genau das ist die Aufgabe einer schematischen Darstellung, nämlich komplexe Sachverhalte vereinfacht und auf das Wesentliche reduziert darzustellen. In aller Regel - und so auch im Fall des Hufeisenschemas - gehört eine schematische Darstellung in einen erörternden und erläuternden Kontext, was im konkreten Fall Backes Extremismustheorie ist. Auf die geht in der jüngsten Debatte fast keiner der leitmedialen Kritiker ein, jedenfalls habe ich (bis auf die beiden, in Fußnote 6 erwähnten) kein Beispiel gefunden, das sich näher mit dem theoretischen Kontext zum Hufeisenschema befasst und nur wenige, die wussten, dass dazu ein ganzes Buch gehört.

Das Hufeisenschema ist nach meiner Sicht der Dinge zu vereinfachend geraten, um als solches ohne weiteren Kontext für sich allein zu stehen - was sicherlich auch nicht Backes Intention war. Deshalb habe ich ein eigenes, etwas ausführlicher gestaltetes Modell entworfen, welches das politische Spektrum in Deutschland beschreiben soll und das ich "Kreis der Politik" nenne. Das Modell ordnet die derzeit im Bundestag vertretenen Parteien dem politischen Spektrum zu und veranschaulicht die Verzweigung des rechten und linken Lagers in die Radikalität beziehungsweise den Extremismus, wobei die Distanz zwischen den extremen Polen so klein dargestellt wird, wie sie tatsächlich ist, denn einerseits zielt der Kern der Ideologie und der politischen Praxis auf eine Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und die Etablierung autoritär-diktatorischer bis neo-totalitärer Systeme ab. Andererseits veranschaulicht die kurze Distanz zwischen den Extremen das Phänomen des "kurzwegigen" Seitenwechsels mancher Protagonisten eines Lagers in das andere. Interessant dabei ist, dass der Sprung über die kurze Distanz der Lücke zwischen den extremen Polen fast ausschließlich von links nach rechts erfolgt, genannt seien beispielsweise Bernd Rabehl, Reinhold Oberlercher und - als extremstes Beispiel - Horst Mahler. Mir ist mit Bertolt Brechts Freund Arnolt Bronnen nur ein prominenter Fall bekannt, in welchem der Sprung vom rechten zum linken Pol erfolgt wäre, allerdings erst, nachdem er zunächst von links nach rechts gesprungen war. Bronnen, ein exzellenter, aber weitgehend in Vergessenheit geratener Schriftsteller, vollzog nach 1927 den Seitenwechsel auf dem kurzen Weg von links nach rechts, verkehrte mit Goebbels - Brecht war dann nicht mehr sein Freund - und unterzeichnete Ende Oktober 1933 gemeinsam mit 88 (sic) Schriftsteller- und Dichterkollegen das "Gelöbnis treuester Gefolgschaft" gegenüber Adolf Hitler. Allerdings sprang Bronnen 1945 wieder zurück, wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs und zog 1955, vermittelt durch Johannes R. Becher, in die DDR um, wo er 1959 verstarb. [8 Quellen]

Doch nun zum "Kreis der Politik" - so sieht das Schema aus. Es ist, um es noch einmal zu betonen, ein Schema - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es erhebt keinerlei Anspruch auf eine vollständige Darstellung der Komplexität gesellschaftlicher und/oder politischer Sachverhalte und Prozesse, sondern soll das Prinzip derselben illustrieren, also veranschaulichen. Es macht auch keinerlei quantitative Angaben über die Größe der Parteien und Gruppen, sondern beschreibt lediglich ihre Positionierung im politischen Spektrum. Quantitative Angaben sind in dieser schematischen Form nicht darstellbar, weil das politische Spektrum Teil des gesamtgesellschaftlichen politischen Prozesses und deswegen nicht statisch ist. Es ist also nicht ablesbar, wie viele AfD-Mitglieder rechtsradikal oder wie viele Linke einschließlich der gleichnamigen Partei linksradikal zu verorten sind, genauso wenig stellt das Schema die Größe des extremistischen Teil des politischen Spektrums dar. Aus demselben Grund beinhaltet es auch keine Vergleiche dergestalt, dass ein Lager in der Summe radikaler wäre als das andere. Weil die Mitte kein Punkt ist und weil der Begriff sowieso zu unspezifisch ist, um ihn in diesem Schema irgendwo auf der Kreislinie zu positionieren, habe ich die "Mitte" im oberen Teil der Darstellung als Summe aller Positionen oberhalb der dogmatischen Positionen quasi symbolisch mit blaugrauem Hintergrund in die Mitte gesetzt, deshalb in Gänsefüßchen. Den in der Mitte des Schemas positionierte,waagerechte Doppelpfeil kann man sich als nach oben und unten verschiebbar darstellen. Er veranschaulicht die Differenz in den Vorstellungen, wie Gesellschaft und Staat aussehen sollten und stellt damit einerseits die Differenz in den Ideologien und politischen Zielen und andererseits die Annäherung in den organisatorischen Strukturen und der politischen Praxis und Methodik dar. Je länger der Doppelpfeil, desto größer ist im Feld "Mitte" diese Differenz in den Ideologien und politischen Zielen. Je kürzer der Pfeil unterhalb des Feldes "Mitte" ist, desto größer ist die Annäherung in den organisatorischen Strukturen und in der politischen Praxis und Methodik. Die grau dargestellte Sekante im unteren Drittel stellt quasi die Grenze dar, unterhalb derer der demokratische Konsens und das Grundgesetz als Basis der politischen Ideologien und des daraus resultierenden Handelns verlassen wird. Alles, was sich oberhalb dieser Linie befindet, bewegt sich im Rahmen des Grundgesetzes innerhalb des demokratische Konsens, auch, wenn im derzeitigen Diskurs sich dem rechts-konservativen und links-dogmatischen Spektrum annähernde Positionen per se und links-dogmatische Positionen hin und wieder als demokratie- und verfassungsfeindlich dargestellt werden.

Freilich sind die Grenzen in jeweils beide Richtungen, also hin zum liberalen und zu den radikalen und extremen Polen, fließend. Im grau dargestellten radikalen resp. extremistischen Segment unterhalb der Konsenslinie nähern sich Ideologie, Ziele und Praxis zur Durchsetzung derselben an. Die Gemeinsamkeiten bestehen in der radikalen Ablehnung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie, der Infragestellung beziehungsweise Negierung des staatlichen Gewaltmonopols, in der Zielsetzung der Etablierung eines autoritär-diktatorischen Regimes anstelle der parlamentarischen Demokratie, in autoritären Strukturen innerhalb der Gruppierungen auf beiden Seiten und in der Anwendung von Gewalt gegen Sachen bei billigender Inkaufnahme von Personenschäden bis hin zur Gewalt gegen Menschen bei billigender Inkaufnahme des Todes von Menschen. (Vgl. hierzu die dazu passenden Ausführungen in dem Text Agnoli und die Linke.)

Ein revidiertes Hufeisenschema - der Kreis der Politik - Zeitkommentar.de

UPDATE September 2024
Noch ist in bisheriger Ermanglung an konkreter Programmatik und politischer Praxis nicht klar, wo in diesem Schema das BSW, das "Bündnis Sahra Wagenknecht", einzuordnen ist. Sicher ist bisher nur, dass das politische Konzept des BSW Elemente beziehungsweise Aspekte aus linker und konservativer Programmatik und Ideologie in den Spektren des Kreises vereint, die mit den beiden Punkten der horizontalen Kreissehne (Doppelpfeil im Schema) markiert sind. Womit sie auf den ersten Blick als unvereinbar erscheinen, zumindest als nicht darstellbar in einem solchen Schema.
Natürlich überfordert das auch die bezahlten, allerdings in den seltensten Fällen tatsächlich professionellen Politik- und Welterklärer der Leit- und Qualitätsmedien. Diese "Experten" tun deshalb das, was mit politisch aktiven Menschen zu tun versucht wird, die von ihnen als außerhalb der "demokratischen Mitte" positioniert wahrgenommen werden - hat man keine Erklärung, geschweige denn eine Analyse parat, versucht man es eben mit Diffamieren. Im konkreten Fall entblödet man sich nicht, Sahra Wagenknecht als Nationalbolschewistin zu bezeichnen. Den Anfang hat, wenn ich das richtig sehe, ausgerechnet Jürgen Trittin schon am 24.02.2023 in einem Interview mit dem News-Portal von t-online gemacht, als er meinte: »Wagenknechts Nationalbolschewismus ist eine ganz unselige Tradition in Deutschland.« Nun war der deutsche Nationalbolschewismus, von seinen Vertretern - wie in Karl Otto Paetels "Nationalbolschewistischem Manifest" (01.01.1930) nachzulesen - auch Nationalkommunismus oder sozialrevolutionärer Nationalismus genannt, alles andere als eine »Tradition«, sondern ein kurzzeitiges, politisches Randphänomen in der Zeit der Weimarer Republik, das für etlicher Vertreter nach dem 30.01.1933 in nationalsozialistischen KZs endete, für andere, die in die UdSSR geflüchtet waren, während der Zeit des Großer Terrors (Herbst 1936 bis Ende 1938) in sowjetischen Gulags. Aber das hat der Trittin in seiner Zeit als Funktionär des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands in den obligatorischen Politschulungen wohl nicht gelernt. Deshalb weiß er offensichtlich auch nicht, dass es, wenn sich diese »ganz unselige Tradition« gegen den Nationalsozialismus hätte durchsetzen können (was von Anfang an illusorisch war), weder den Holocaust noch den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gegeben hätte.
Am 11.09.2023 setzt ein gewisser Peter R. Neumann, der als Experte für sicherheitspolitischen Themen gilt im Tagesspiegel noch einen drauf und legt etwas vor, das wohl wie eine Analyse wirken soll. Seine "Argumentation" nach der Methode "Zuckerbrot und Peitsche" ist so effizient wie durchschaubar - er zieht als historischen Vergleich ausgerechnet George Sorel heran - was man durchaus als Ehre betrachten kann - und konstatiert schließlich: »Wagenknecht ist also keine "National-Sozialistin", aber ihre neue Partei würde sehr gut an die national-bolschewistische Tradition anknüpfen. [...] Am wichtigsten vielleicht: Genauso wie Niekisch will sie statt der Bindung an Amerika und den Westen ein engeres Bündnis mit einem autoritären Russland. [...] Ihr gemeinsamer Nenner ist die Feindschaft gegenüber einer am Westen orientierten, liberalen und bürgerlichen Demokratie«
Genau hier setzt die Infamie dieser Unterstellung - bei der bloßen Erwähnung des Begriffs "Nationalbolschewismus" verfällt das gesamte, im obigen Kreis vertretene politische Spektrum in Schnappatmung. Die linke Seite wegen des "national", die rechte Seite wegen des "Bolschewismus" und das Spektrum der sogenannten "demokratischen Mitte" wegen der Kombination aus "national" und "Bolschewismus". Befördert wird diese affektive Abwehrreaktion durch den Umstand dass de facto niemand etwas mit dem Begriff "Nationalbolschewismus" anfangen kann, das diesbezügliche, historische Wissen dürfte in der Bundesrepublik - von einer sehr kleinen Gruppe Interessierter - hart gegen Null gehen. Wie heutzutage üblich haben aber - ebenfalls buchstäblich - alle eine "Meinung" dazu. [9 Quellen/Hinweise]
UPDATE Ende

Doch weiter im Text - wie es in der radikalen und extremen Rechten um das Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie bestellt ist, sollte hinlänglich bekannt sein. Wie es die Linken mit der parlamentarischen Demokratie halten, bleibt hingegen in den sogenannten Leit- resp. Qualitätsmedien stets unter dem Radar und jenseits der Wahrnehmung, sofern nicht gerade wieder halb Connewitz abgeräumt wurde, ein G-20-Gipfel ansteht oder die Linke, gemeint ist die Partei, sich mal wieder selbst in den Fuß schoss. Als hätte es eines empirischen Belegs für die zumindest grundsätzliche Korrektheit des Hufeisenschemas bedurft, hat uns die Linke, gemeint ist immer noch die Partei, erst jüngst in Kassel anlässlich ihrer Strategiekonferenz am 29.02. und 01.03.2020 vorgeführt, wie Teile der Partei ihr Demokratieverständnis definieren. Auf einer Veranstaltung unter dem Motto "Green New Deal - ein mögliches Zukunftsprojekt?" ergriff die Genossin Sandra Lust von der Landes­arbeits­gemeinschaft "Betrieb und Gewerkschaft" und der Bundes­arbeits­gemeinschaft "Klimagerechtigkeit" das Wort und wies auf Grundsätzliches - Strategisches halt - hin, das im Zuge der zu erwartenden Revolution erforderlich sein wird, und das klang so:

»Und, äh, ich wollt noch mal kurz sagen, Energiewende ist auch nötig nach 'ner Revolution, und auch wenn wir dat ein Prozent der Reichen erschossen haben, [Gelächter im Saal] isses immer noch so, dass wir heizen wollen, wir wollen uns fortbewegen - na ja, is so, wir müssen mal von dieser Metaebene runterkommen und wir diskutieren darüber, ob 2030 oder 2035 oder 2050, aber was bedeutet des?«
[10 Quelle]

Allerdings ist der Vorschlag der Genossin Lust etwas aus der Zeit gefallen, denn strategisch resp. methodisch steht die Genossin immer noch beim "Beschluss des Rates der Volkskommissare über den Roten Terror". [11 Hinweis] Der Generalsekretär Riexinger hat die Lehren des Genossen Stalin besser verstanden und korrigiert die Genossin Lust umgehend:

»Ich wollt noch sagen, wir erschießen sie nicht, wir setzen sie schon für nützliche Arbeit ein.« [Applaus und Gelächter im Saal]

Gulag reloaded - so schnell schießt die Linke nicht
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Genosse Stalin wusste nämlich, dass es durchaus pragmatischere und vor allem dem Aufbau des Sozialismus dienlichere Wege zur Eliminierung des Klassenfeindes gibt, zum Beispiel beim Bau von Kanälen oder im Bergbau - "nützliche Arbeit" halt. Bleibt eigentlich nur noch die Frage, wer den Jagoda, den Jeschow oder den Berija macht, wobei ich optimistisch bin, dass sich da schon jemand in den Reihen der Linken finden wird, zur Not hat man ja noch die Antifa. Und vielleicht noch diese - wird die solcherart von den Genossen erhoffte Periode der Revolution später nach ihrem schon jetzt hinlänglich bekannten Ende als "Riexischtschina" in die Geschichtsbücher eingehen? [12 Hinweise] Sie werden es natürlich nicht tun, aber ich empfehle Riexinger und seinen Idioten aus der Revolutionsfraktion dringend, sich die dreiteilige arte-Dokumentation "Gulag - Die sowjetische 'Hauptverwaltung der Lager'" anzusehen. Ob die von denen auch mit Applaus und Gelächter bedacht wird? [13 Hinweis] Man stelle sich vor, irgendwer aus der rechten Fraktion in einer Position, die der Riexingers oder auch nur der der feinen Frau Lust adäquat ist, hätte vorgeschlagen, ungefähr 831.000 - das ist ein Prozent der hiesigen Bevölkerung - missliebige oder sonstwie unerwünschte Menschen zu erschießen oder "nützlicher Arbeit" zuzuführen. An dem "Shitstorm", wie man das nennt, dürften wir uns heute noch erfreuen, so es denn so gewesen wäre. Mit den Genossen Lust und Riexinger ging die leit- und qualitätsmediale Presse rücksichtsvoller um, meist beließ man es bei dem impliziten, manchmal auch expliziten Hinweis, dass halt jede Partei ihre Verrückten hätte. Ansonsten durfte der eine oder andere Hauskonservative eine Glosse platzieren wie Harald Martenstein vom Tagesspiegel, der flink ausrechnete, dass jedes Mitglied der Linken dreizehn Reiche erschießen dürfte, wenn die denkwürdigen Terrorfantasien der Genossin Lust Realität würden. [14 Quelle] Doch die Verrückte ist nicht das Problem, sondern der Genosse Bernd Wissarionowitsch Riexinger als Parteichef - konkret der Stalin in ihm - ist es. Bleibt die Frage - was reden die eigentlich, wenn keine Kamera läuft und kein Nichtgenosse zuhört?

Mehr zum Demokratieverständnis der Linken - nicht nur der Partei, sondern alle, die sich für links halten -, zumindest einiger Teile derselben, und zu Angoli hier in dem Text Agnoli und die Linke.

Fußnoten und Quellen

[1] Schneider, Johannes: Das Hufeisen muss runter. Zeit online, 28.10.2019
https://www.zeit.de/kultur/2019-10/linke-rechte...

[2] Polenz ist "Goldener Blogger"
https://www.deutschlandfunkkultur.de/goldener-blogger...
Polenz-Tweat "Das Hufeisen muss runter"
https://twitter.com/polenz_r/status/1204503283949281280

[3] Rütten, Finn: Warum die Hufeisentheorie Unsinn ist. Stern online, 11.02.2020
https://www.stern.de/politik/deutschland/linksextrem-und-rechtsextrem...

[4] Karl Radek bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Radek
Ernst Thälmann bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Thälmann

[5] Die Wurzeln des historischen Nationalbolschewismus liegen im Hamburger Nationalkommunismus der Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), die sich Anfang April 1920 von der KPD abspaltete. Gründungsmitglieder waren Hamburgs "roter Diktator" (11.11.1918 - 20.01.1919) Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim, die ihrerseits jedoch schon am 14.08.1920 wegen "nationalbolschewistischen Sektierertums" aus der KAPD ausgeschlossen wurden. Beide gründeten den bedeutungslos gebliebenen "Bund der Kommunisten", Wolffheim verließ den BdK 1925 und schloss sich 1930 der Gruppe Sozialrevolutionärer Nationalisten (GSRN) um Karl Otto Paetel an, deren zentraler Programmpunkt ein Bündnis des Deutschen Reiches mit der Sowjetunion war. Wolffheim verstarb 1942 im KZ Ravensbrück. Paetel veröffentlichte am 30.01.1933, dem Tag von Hitlers Machteinsetzung, für die GSRN das "Nationalbolschewistische Manifest", seitdem ist der Begriff, der ursprünglich von Karl Radek als abwertend gemeinte Bezeichnung für die Politik Laufenbergs und Wolffheims geprägt wurde, die allgemein gültige Benennung für dieses politische Konzept.
Paetel, Karl Otto: Das Nationalbolschewistische Manifest. Haag + Herchen, Hanau 2012. https://www.haagundherchen.de/titel/978-3-89846-673-8.html
Hier kann man das Manifest bei Archive.org lesen:
https://archive.org/details/DasNationalbolschwistischeManifestKarlOttoPaetel/mode/2up
Paetel, Karl Otto: Nationalbolschewismus und nationalrevolutionäre Bewegungen in Deutschland: Geschichte - Ideologie - Personen. Bublies, Schnellbach 1999 https://bublies-verlag.de/...nationalrevolutionaere-bewegungen-in-deutschland/

[6] Uwe Backes bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Uwe_Backes
Eckhard Jesse bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Eckhard_Jesse
Armin Mohler bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Armin_Mohler
Adolf Ehrt bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Ehrt
Ich habe nur zwei sachkundige Artikel zum Thema gefunden, einen von Gustav Seibt in der Süddeutsche Zeitung vom 12.02.2020 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/thueringen...), den anderen in der Jungen Welt. Zwar ist das Blatt Leit-, im linken Pressespektrum aber durchaus ein Qualitätsmedium, was dieser Artikel zur Geschichte des Hufeisenschemas mit einem Exkurs in die Historie des Nationalbolschewismus beweist. https://www.jungewelt.de/artikel/...hufeisenspur.html

[7] Appenzeller, Gerd: Das große Austeilen nach beiden Seiten. Tagesspiegel online, 09.02.2020
https://www.tagesspiegel.de/politik/aequidistanz...

[8] Arnolt Bronnen bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Arnolt_Bronnen
Eintrag zu Arnolt Bronnen auf der KPÖ-Seite
http://ooe.kpoe.at/article.php/2006022309202157

[9] Jürgen Trittin über Sahra Wagenknecht https://www.t-online.de/.../juergen-trittin-ueber-wagenknecht-manifest-eine-unheilige-tradition-.html
Peter R. Neumann über Sahra Wagenknecht https://www.tagesspiegel.de/...sahra-wagenknecht-die-nationalbolschewistin-10448056.html
George Sorel bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Sorel
Ernst Niekisch bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Niekisch

[10] Die Linke - Strategiekonferenz Kassel 29.02./01.03.2020: Green New Deal – ein mögliches Zukunftsprojekt? https://www.youtube.com/watch?v=HXXPd6z868Q

[11] Beschluss über den Roten Terror https://www.1000dokumente.de/...

[12] Genrich Jagoda bei Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Genrich_Grigorjewitsch_Jagoda
Nikolai Jeschow bei Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolai_Iwanowitsch_Jeschow
Lawrenti Berija bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Lawrenti_Beria
Jeschowschtschina bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Großer_Terror...

[13] Gulag - Die sowjetische "Hauptverwaltung der Lager" (Frankreich 2017, Regie Patrick Rotman) Die Dokumentation ist zur Zeit nicht in der Mediathek.

[14] Harald Martenstein: Das Erschießen liegt wohl in der DNA der Linksradikalen. Tagesspiegel 07.03.2020
https://www.tagesspiegel.de/politik/martenstein...
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