Zeitkommentar - Betrachtungen zur Zeit von Neidthard Kupfer
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Geschrieben von Neidthard Kupfer
Veröffentlicht: 15. Oktober 2024

Jegor Letow - Würdigung eines Genies

»Ich verstehe nicht, wie man ohne Glaube und Hoffnung überhaupt etwas tun kann - selbst Nägel einschlagen!«
200 Jahre Einsamkeit. Interview mit Jegor Letow. 29.12.1990 [1]

Am 10. September 2024, wäre Jegor Letow 60 Jahre alt geworden. Es gibt wohl keinen zweiten Musiker oder Künstler, der einen solchen Einfluss auf eine Entwicklung weltpolitischen Ausmaßes hatte, ich jedenfalls kenne keinen. Jegor Letow lieferte nicht nur den Sound zu einem welthistorischen Umbruch, sondern war gemeinsam mit Wiktor Zoi (Wikipedia) - beide voneinander unabhängig und jeder auf seine ganz besondere Weise - das musikalische Schwungrad dieses Umbruchs. Es gab und gibt wohl keinen zweiten Musiker, der so wütend, hartnäckig und ohne Rücksicht auf Verluste und Konsequenzen für sein eigenes Leben in die Speichen des Rades der Geschichte griff und dabei ein gewaltiges und bis heute nachwirkendes Werk hinterließ.

Dichter, Sänger, Multiinstrumentalist, Komponist, Songwriter, Produzent, Tontechniker, Konzeptkunstmaler, Gründer mehrerer Konzeptkunst-Avantgardeprojekte - das alles war Jegor Fjodorowitsch Letow, der am 10. September 1964 in Omsk geboren wurde und am 19. Februar 2008 ebendort verstarb. Der Gründer und Leiter der legendären Rockband Гражданская оборона (Graschdanskaja Oborona, Zivilverteidigung, Bürgerwehr) dürfte der einzige Bandleader der Welt sein, der seine Gruppe zweimal auflöste, weil sie ihm zu populär wurde und er den Hype um die Band als Belästigung und störend für seine künstlerische Arbeit empfand. [2]

Jegor Letow - Zeitkommentar.de
Jegor Letow - Zeitkommentar.de
Jegor Letow - Zeitkommentar.de

Obwohl es ihm bis zum Ende der Sowjetunion nicht möglich war, seine Lieder legal und "offiziell" zu publizieren, hinterließ Jegor Letow ein ungewöhnlich umfangreiches Werk. Letows Œuvre umfasst 822 Lieder auf insgesamt 51 Alben, die er in 24 Jahren verfasste, zum Vergleich - Bob Dylan brachte es auf 600 - in 60 Jahren. Letow war einer der kreativsten, produktivsten und zugleich am meisten unterschätzten Musiker der modernen Unterhaltungsmusik aller Genres, im Westen ist er praktisch unbekannt.

»Ja, wir sind eine Musikband, wir veröffentlichen Alben, wir geben Konzerte. Aber daneben gibt es noch eine andere Aufgabe. Bei Graschdanskaja Oborona geht es im Wesentlichen darum, eine neue Lebensweise zu organisieren, neue Beziehungen zwischen den Menschen. [...] In erster Linie muss man also das Richtige tun. Aber nicht, weil es ein Dogma ist. Sondern weil die Freiheit darin besteht, dass wir bei allem, was wir tun, darauf achten müssen, dass es anderen Menschen nicht schadet. Jeder hat das Recht, glücklich zu sein. Aber nicht auf Kosten des Unglücks eines anderen. Aber das ist nicht der Stand unserer Gesellschaft im Moment. Es ist einfacher für die Menschen, sich gegenseitig zu bekämpfen, als sich darauf zu einigen, alle glücklich zu machen.«
Dmitrij Guds: Gespräch zwischen Jegor Letow und Dmitrij Guds, das einen Monat vor Egors Tod stattfand. [3]

Gleichzeitig ist Letow der wohl am meisten gecoverte Rockmusiker der Welt, und das vermutlich für alle Zeiten. Ich habe bei YouTube ohne große Mühe Coverversionen von mehreren Dutzend verschiedenen Liedern quer durch alle Genres von Rock, Pop und Liedermachern, von Rap und Techno bis zu Kinder- und Studentenchören und symphonischen Interpretationen gefunden. Sicherlich einmalig ist die Breite des Spektrums an Interpretationen, das nicht nur alle musizierenden Generationen, sondern auch alle Genres vom Punk über Pop, Rock und Techno bis zur symphonischen Musik umfasst - dargeboten von weltweit bekannten Bands wie Massive Attack (Всё идёт по плану), Louna (Моя оборона), Lumen (Харакири), Noize MC (Всё как у людей) und der Группировка Ленинград (Ленин такой молодой), von in der Föderation populären Bands wie Психея (На хуй), Нейромонах Феофан (Без меня), OLIGARKH (Моя оборона) und Наив (Сияние), von talentierten, jungen Rockbands wie Aleksandr Puschnoij (Всё идёт по плану), MALAЯ (Моя оборона) und кис-кис (Харакири). Zu finden sind in diesem Spektrum Aufführungen von instrumentierten Versionen Letowscher Lieder des Omsker Sinfonieorchesters (Симфооборона), der Omsker Schulchor der Kinderkunstschule Nr. 6 "Jewgeni Fjodorowitsch Swetlanow" (Любви не миновать), dazu singende Studenten (Долгая счастливая жизнь), singende Theaterschauspieler (Реанимация), Liedermacher wie Jurij Karpikow (Наваждение) und natürlich etliche ambitionierte Amateure wie zum Beispiel Darija Kantuganowa (Моя оборона). Auf keinen Fall vergessen will ich in dieser kleinen Aufzählung den viel zu früh mit 21 Jahren verstorbenen Lil Peep, der ausgerechnet das Lied Мы идём в тишине (Wir gehen in Stille) gecovert hat, das Jegor Letow 1988 mit Чёрный Лукич mit dem Album Кончились патроны als Produzent aufgenommen und als Bassist, Schlagzeuger und Gitarrist eingespielt hatte. Üblicherweise wurden und werden etliche Pop- und Rockmusiker zwar oft mit einzelnen Liedern in zahllosen Versionen gecovert, aber eben nur mit je einer Handvoll Lieder und nicht mit so vielen.
Coverversionen von Jegor Letows Liedern - ein Zusammenschnitt über die Genre-Grenzen hinweg

»Die Situation ändert sich - wir müssen situationsübergreifend handeln. Es gibt ein Lied "Ich werde immer dagegen sein", aber ich kann gleichermaßen singen "Ich werde immer dafür sein". Wenn sich die Situation ändert, ist das jedes Mal eine Falle für einen Narren. Für einen intelligenten Menschen ist dies ein Sprungbrett, um auf die nächste Stufe zu springen. Darum geht es bei all unserer Musik - bei unseren politischen Spielen, Ausflügen in die Politik, bei Handlungen oder bei demonstrativer Untätigkeit. Manchmal ist Untätigkeit viel cooler als Action. Das ist es, was wir unser ganzes bewusstes Leben lang tun - es ist jetzt bewusst und klar, weil es zu Beginn der Ära Momente gab, in denen wir aus Naivität gehandelt haben.«
Jegor Letow im Gespräch mit Sergeij Gurjew: Narrenfalle - Dialog mit Jegor Letow. Контркультура 5/2002, [4]
Против (Dagegen), Studioversion vom Magnitoalbom [Hinweis]
Liverversion vom Festival "СыРок-88" am 4. Dezember 1988 in Moskau mit einem spektakulären Auftritt von Letows Band. [5]

Dessen ungeachtet ist Letow bis heute der wohl umstrittenste Musiker Russlands, er wird entweder geliebt und hin und wieder wie ein Gott verehrt oder er wird ebenso inbrünstig gehasst. Die Haltung des russischen Staates und seiner Vertreter zu Letow und seinem Werk ist ambivalent, einerseits ist es schwierig, den wohl bedeutendsten Musiker der Populärmusik des Landes zu ignorieren - nichtsdestotrotz versucht man es nach Kräften, andererseits hört kein Vertreter der Staatsmacht - nicht nur in Russland - gerne die wütend zum Vortrag gebrachte Aufforderung »Убей в себе государство!« (Töte den Staat in dir, eine Liveversion des Liedes aus dem Jahr 2007 bei YouTube).

Jegor Letow mit seinem Vater - Zeitkommentar.de
Jegor Letow mit Mutter, Vater und Bruder - Zeitkommentar.de
Jegor Letow - Zeitkommentar.de

Letows musikalische Karriere begann im Jahr 1982 mit der Gründung der Band Посев (Posew, Saat). Am 8. November 1984 gründete er mit Гражданская оборона die Band, mit der er in der ganzen Sowjetunion bei der Jugend berühmt und bei anderen Zeitgenossen berüchtigt wurde, was insbesondere die in den staatlichen Kulturorganisationen und beim KGB tätigen betrifft. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Kompositionen Letows in seiner Drei-Zimmer-Wohnung im Гроб-Studio (GrOb für Graschdanskaja Oborona) im Erdgeschoss eines Wohnblocks aus den späten 1950er Jahren in Omsk eingespielt, in einem Wohnblock des Bautyps, der bis heute Хрущёвка (Chruschtschjowka) genannt wird. Die Begeisterung seiner Nachbarn in diesem hellhörigen Plattenbau über Letows musikalische Aktivitäten hielt sich in sehr überschaubaren Grenzen. Eine Ausnahme von dieser Regel ist das berühnte vierzehnte Albun von Гражданская оборона "Песни Радости и Счастья" (Lieder der Freude und des Glücks, 1989) [6]

Jegor Letow - Zeitkommentar.de
Jegor Letow - Zeitkommentar.de
Jegor Letow - Zeitkommentar.de
»Tarkowski sagte in einem Interview, dass ihm Menschen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind und Hoffnung haben, näher stehen als andere. Vielleicht ist es das, was Hoffnung ausmacht. Sie zieht sich jedes Mal zurück und erzwingt einen Rückzug "Schritt für Schritt". Und manchmal denke ich, dass das Stärkste und Wahrhaftigste ist, die Hoffnung aufzugeben. Dann fängt vielleicht alles an!... Und doch weiß ich nicht, ob die Hoffnung eine Schwäche oder eine Stärke ist. Die Sache ist die, dass ich mein ganzes Leben lang an das geglaubt habe, was ich getan habe. Ich verstehe nicht, wie man ohne Glaube und Hoffnung überhaupt etwas tun kann - selbst Nägel einschlagen! Jeder, der diesen Glauben nicht in sich trägt, hat keine Macht und ist daher das, was er ist (und jetzt ist das allgegenwärtig) - ein Witz«
200 Jahre Einsamkeit. Interview mit Jegor Letow. 29.12.1990 [7]

Letow publizierte seine Musik in den ersten Jahren als магнитоалЬбомы (Magnitoalbom, von магнитофонный алЬбом, das bedeutet magnetofonisches Album). Das waren Musikalben, die in Ermangelung eines Musikverlages - seinerzeit bis zum Ende der Sowjetunion gab es nur den staatlichen Verlag "Мелодия" (Melodija, Melodie) für die Publikation von Unterhaltungsmusik - von den Musikern auf einem Tonbandgerät eingespielt wurde, anfangs auf einem Kassettengerät, ab 1988 benutzte Letow dafür ein Gerät vom Typ "Олимп-003-стерео". [8] Die Masterbänder wurden auf einige qualitativ hochwertige Masterkassetten kopiert, diese wurden in die ganze Sowjetunion verschickt und regional auf handelsübliche Musikkassetten vervielfältigt, welche in aller Regel kostenlos oder zum Selbstkostenpreis verteilt wurden - so sahen die aus. Später, ab Mitte der 1990er Jahre, wurden die erhalten gebliebenen Masterbänder digitalisiert und als CDs von verschiedenen russischen Independent-Labels im Auftrag von Гроб-Records verlegt - Jegor Letow hatte nie einen Plattenvertrag mit einem Major Label. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Kompositionen Letows in seiner Drei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss eines Wohnblocks aus den späten 1950er Jahren in Omsk eingespielt. Er wollte nie einen Plattenvertrag mit einem Major Label, alle seine Alben wurden und werden, seit 2008 von seiner Witwe, über seinen Selbstverlag ГрОб Records produziert und vertrieben.

Impressionen - das ГрОб-Studio - Zeitkommentar.de
Impressionen - das ГрОб-Studio - Zeitkommentar.de
Impressionen - das ГрОб-Studio - Zeitkommentar.de
Impressionen - das ГрОб-Studio - Zeitkommentar.de
Impressionen - das ГрОб-Studio - Zeitkommentar.de
Олимп-003 стерео - Zeitkommentar.de
Олимп-003 стерео - Zeitkommentar.de
Wohnhaus mit dem ГрОб-Studio - Zeitkommentar.de

Impressionen aus dem ГрОб-Studio, das hin und wieder auch als Letows persönlicher Friseursalon diente (3. Bild). Auf dem 4. Bild ist Letow mit seinem acht Jahre älteren Bruder Sergej (links) zu sehen. Bild 7 zeigt die sowjetische Werbung für das Tonbandgerät Олимп-003 стерео [8], das Letow seit 1988 benutzte. Das 8. Bild zeigt das Wohnhaus in Omsk in der улица Петра Осминина, 5 (Pjotr-Osminin-Straße), in dem sich im Ergeschoss (rechts neben der Eingangstür) befand. Die Gitter vor den Fenstern wurden nach Letows Tod angebracht, weil immer wieder Fans versuchten, in die Wohnung einzusteigen. Letows Witwe Nataljs Tschumakowa plante 2018, dort ein Museum einzurichten, woraus aber bisher nichts wurde und angesichts der derzeitigen Lage vermutlich auch nichts werden wird. [9]

Eben weil die Musik für Letow "nur" das Transportmittel für seine Philosophie war, änderte er seinen Stil permanent und komponierte und nahm auf - meistens in seiner Omsker Wohnung und oft im Alleingang alle Instrumente einspielend -, ohne auch nur einen Gedanken an mögliche öffentliche Reaktionen zu verschwenden. Er mischte, ausgehend vom Punk, verschiedene Stile wie Psychedelic Rock, Garage Rock, Grunge und andere inklusive der heimischen wie Estrada und russischer Chanson, bis er schließlich in einer kreativen Pause zwischen 1999 und 2000 zu einem unverwechselbaren Stil sui generis fand. Aber selbst der Punk, mit dem er 1982 seine musikalische Karriere mit der Band Посев (Saat) begann und mit dem er sie ab 1984 mit Гражданская оборона (Graschdanskaja Oborona - Zivilverteidigung, Bürgerwehr) fortsetzte, trug eine ganz eigene Handschrift, weswegen er einer der zwei Protagonisten seines eigenen Genres sui generis war, des Sibirischen Punk. Die zweite Protagonistin war seine ebenso geniale Frau Janka Djagilewa, die am 9. Mai 1991 verstarb.

»Ich denke nicht, dass ich etwas Neues verrate, wenn ich sage, dass alles zum Teufel geht. Es liegt in der Luft, es ist meiner Meinung nach für jeden klar. Die Natur zeigt es uns fast täglich mit ihren wilden Überraschungen. Ich habe den Eindruck, dass eine bestimmte Phase und die Zivilisation, die sie repräsentiert (in ihren monströsen Formen), mit Verwerfungen und Katastrophen endet und eine neue beginnt. Mit neuen Ebenen, neuen Aufgaben. Wenn die einen weg sind, werden andere kommen. Wissen Sie, ich bin sehr pessimistisch - ich glaube nicht, dass die gesamte Menschheit plötzlich klug wird und anfängt, anders zu leben (vor allem nach dem, was geschehen ist). Die einzige Hoffnung ist, dass wenigstens ein paar gute Menschen, LEBENDE Menschen, überleben werden. Aber ich denke, sie werden nur eine neue Evolutionsstufe darstellen, vielleicht werden sie gar keine Menschen sein. Das Leben wird trotzdem weitergehen - es gibt keinen Tod.«
Auszug aus einem Interview, das Maksim Semeljak am 25. Mai 2007 mit Jegor Letow für die Zeitschrift "Русская жизнь" (Moskau) führte. [10] Das Video wurde am nächsten Tag, den 26. Mai, im Б1 (seit 2017 ГлавClub) in Moskau anlässlich der "Зачем Снятся Сны?"-Tour ("Warum haben wir Träume?") zu Letows letztem Album aufgenommen. Hier das komplette Konzert:
https://www.youtube.com/watch?v=l7jtb-N9N1E

Das Wesentliche an Letow ist jedoch etwas anderes: Jegor Letow ist zuallererst ein russischer Denker und sein Werk ist die Manifestation des russischen Geistes, in dem Niederlage und Sieg eng miteinander verflochten sind, in dem jede Errungenschaft nur möglich ist durch Heldentum. Russen gewinnen nicht "wegen", sondern "trotz". Die Russen gehen - im übertragenden Sinne - nicht auf Straßen, sondern kämpfen sich auf schneebedeckten Feldern und durch einen Schneesturm, um zahllose Hindernisse zu überwinden, vor allem aber ihr Ich.
Es gibt den Topos des "nationalen Genies", was bedeutet, dass dieses Genie ohne das Land und die Nation seiner Herkunft unmöglich oder undenkbar ist. Das waren zum Beispiel in Deutschland Goethe, Nietzsche oder Wagner, in Russland Dostojewski, Tolstoi und Mussorgski, in den USA Twain, Poe und Gershwin. Es kann hierbei passieren, dass ein Genie oder ein großes Talent für niemanden außer für sein Volk verständlich ist. Unabhängig davon, wie oft seine Arbeit in andere Sprachen übersetzt wird - es erregt weder großes Interesse noch vor allem Verständnis. Genau dies trifft auf das Genie Letow zu - er ist vor allem russischen Menschen verständlich - und nahe.

Zeitzeugen über Jegor Letow

Jurij Schewtschuk, Begründer und Leadsänger der sehr populären Rockband ДДТ:
»Für mich war er immer die äußerste Front, die Grenze der Freiheit, jenseits derer es wahrscheinlich das totale Chaos ist! Es ist so ein strahlendes Schwarz und glitzerndes Weiß, ein absolutes Eintauchen und eine achtsame Haltung, ein mitfühlendes Leben mit dem Dreck der Existenz und im Durchbruch zu einigen spirituellen Himmeln gipfelnd. Dunkelheit und Licht - darum geht es bei Jegor Letow.« [11]

Sergej Kalugin, Songwriter und Bandleader der Artrock-Band Оргия Праведников:
»Dies ist ein Mann, der es zu seinen Lebzeiten geschafft hat, Lieder von der anderen Seite des Todes zu schreiben.« [12]

Letows acht Jahre älterer Bruder Sergej Letow, ein international renommierter Jazz-Saxophonist:
»Ich halte meinen Bruder zuallererst für einen hervorragenden Dichter. Die russische Kultur ist logozentrisch – das WORT dominiert darin. Dieses gesungene Wort für die Mehrheit ist "Musik". Manche Leute ahnen nicht einmal, dass es neben Liedern noch andere Musik gibt, und wenn es sie gibt, warum dann?« [13]

Margarita Puschkina, Lyrikerin und Texterin für beispielsweise Ария und Кипелов:
»Ich schätze Jegor Letow eher als einen russisch-sibirischen Dichter. [...] Man kann unterschiedliche Meinungen über seine Arbeit haben. Aber zumindest ist er ein Mann der Tat. Das ist es, was allen unseren Rockern fehlt. Letow ist ein sehr natürliches Phänomen für unser Land. Die Tatsache, dass er gewisse politische Sympathien hat, ist typisch für diese Generation und für diese Region recht charakteristisch. Alle seine politischen Bündnisse entstanden aus Verzweiflung, aus dem Wunsch heraus, einen Ausweg zu finden. Man könnte sagen, dass ГрОб unser russischer "schmutziger Punk" ist, aber was die Texte angeht, ist er unvergleichlich tiefgründiger als seine westlichen Kollegen. Die Texte waren für uns schon immer sehr wichtig. Ich war auf seinen Konzerten. Es ist wirklich fantastisch. Er weiß, wie man ein Publikum in seinen Bann zieht. [...] Und er selbst ist ein so provinzieller, reiner Mensch. Verrückt, wie alle schreibenden Menschen. [...] Die Leute hören ihm immer noch zu, und es gibt immer noch Interesse an seiner Musik, aber der Höhepunkt seiner Popularität ist bereits überschritten, denn die bürgerlichen Stimmungen nehmen überhand, die Stimmung der Massen ist jetzt anders.« [14]

Dies alles sowie die Tatsache, dass er alle, nach dem Einzug des Kapitalismus ins vormalige Sowjetreich sich auch dort durchsetzenden Regeln der Kreativitäts- und Kunstvermarktung konsequent ignorierte, sich der Vermarktung nachgerade verweigerte, dürften die Gründe für die außerhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion de facto nicht existente Wahrnehmung seines ebenso umfang- wie facettenreichen Werkes sein. Jegor Letow ist - gleichwohl er ein herausragender Lyriker war und als einer der wenigen Musiker ein eigenes Genre schuf - der wohl am meisten unterschätzte Künstler der modernen Musik. Außerhalb der Grenzen der Russländischen Föderation war und ist er weitestgehend unbekannt, auch wenn ihm Massive Attack mit einer Coverversion eines seiner bekanntesten Lieder "Всё идёт по плану" (Alles läuft nach Plan) ein musikalisches Denkmal setzte. Lustig finde ich den Kommentar eines YouTube-Nutzers unter dem Video: »Социалистический протест перерос в капиталистический. Ну что, все идёт по плану.« (Der sozialistische Protest hat sich in einen kapitalistischen Protest verwandelt. Nun, alles läuft nach Plan.)
Massive Attack - Всё идёт по плану

Verstärkt wird der Effekt natürlich auch durch die Weigerung, sich auch nur ansatzweise auf die russische Sprache einzulassen, so ist jedenfalls meine Erfahrung in den sogenannten sozialen Medien mit meinen eher erfolglosen Bemühungen, den deutschen Lesern die russische Musik nahezubringen.

Fußnoten

[1] Домой, Серёга: 200 ЛЕТ ОДИНОЧЕСТВА. Интервью с Егором Летовым, 29.12.1990.
Domoij, Serjoga: 200 Jahre Einsamkeit. Interview mit Jegor Letow, 29.12.1990.
https://www.gr-oborona.ru/pub/anarhi/1056981372.html

[2] Gesamtverzeichnis aller Lieder Jegor Letows, alphabetisch sortiert: https://grob-hroniki.org/text_abc.html

[3] Гудз, Дмитрий: разговор Егора Летова с Дмитрием Гудзом, записанный за 1 месяц до смерти Егора.
Guds, Dmitrij: Gespräch zwischen Egor Letov und Dmitry Gudz, das einen Monat vor Egors Tod stattfand.
https://vestnikburi.com/grazhdanskaya-oborona-egora-letova/

[4] Гурьев, Сергей: Ловушка для Дурака - Диалог с Егором Летовым. Контркультура 5/2002
Gurjew, Sergej: Die Narrenfalle - Gespräch mit Jegor Letow. Kontrakultura 5/2002
http://www.gr-oborona.ru/pub/pub/1056115073.html

[5] Das Festival "СыРок-88" fand am 4. Dezember 1988 im Konzertsaal des riesigen Hotelkomplexes "Измайлово" [das Ismailowo bei Wikipedia]. Der Auftritt von Graschdanskaja Oborona war eigentlich nicht vorgesehen, Freunde "schmuggelten" GrOb als 23. und letzten Auftritt in die Liste, und zwar absichtsvoll, auch wenn der Veranstalter das noch 30 Jahre später etwas verdruckst abstreitet. Er schreibt: »Das heißt, es stellte sich heraus, dass GO als eine Art Gaststar fungierte, unter Bedingungen, die sich grundlegend von denen der übrigen Teilnehmer unterschieden.« [Mit GO ist Graschdanskaja Oborona gemeint. [Quelle]] Letow und die Band hatten seinerzeit schon unionsweit den Ruf, immer für einen musikalischen resp. politischen Skandal gut und vor allem zu haben zu sein und genau das, nämlich sich grundlegend von den übrigen 22, eher harmlos und mehr oder wenig gefällig vor sich hin spielenden Bands zu unterscheiden, boten Letow und GrOb auch auf die denkbar radikalste Weise. Bis zu Letows Auftritt war für die anwesenden Vertreter der Moskauer Kulturbehörden und des KGB, die das wilde Treiben beobachteten, die Veranstaltung zwar nicht schön, aber doch irgendwie in Ordnung - danach nicht mehr. Perestroika hin, Glasnost her - man wollte keine Lieder wie "Totalitarismus", "Harakiri", "Nekrophilie" (auf die Parteikader bezogen), "KGB-Rock", "Horror und moralischer Terror" und eben "Dagegen" hören. Es gab keine weitere Veranstaltung des seit 1985 stattfindenden Festivals mehr und Letow war ein weiteres Mal mit seiner Frau Janka auf der Flucht vor dem KGB. Der komplette Auftritt mit Links zu den Texten hier: https://www.youtube.com/watch?v=9A3t20HgQ0o.

[6] Песни радости и счастья (1989) ist das vierzehnte Album (und nicht das dreizehnte, wie der russische Wikipedia-Eintrag zum Album behauptet) von Graschdanskaja Oborona »Nach einer Reihe von Alben in den Jahren 1987 und 1988, die Jegor Letow fast im Alleingang aufgenommen hatte, wurde die Band 1989 mit Jegor Letow, Konstantin "Кузьма УО" Rjabinow, Igor Schewtun und Arkadij Klimkin zu einer vollwertigen Besetzung. Sergey Firsov, der damalige Manager der Band, stellt Graschdanskaja Oborona der Band АукцЫон (AuktYon) vor. Es entstehen Freundschaften zwischen den Bandmitgliedern und AuktYon stellt Graschdanskaja Oborona einen eigenen Proberaum zur Verfügung. Zuvor hatte Letow keine Erfahrung mit professionellen Aufnahmen und nahm seine Alben hauptsächlich zu Hause auf. Die Band versuchte, neues Material live aufzunehmen, einen neuen Zyklus von etwa vierzig Songs. Die Aufnahme wurde von Mikhail Rappoport als Tontechniker auf einem Vierkanal-Portastudio durchgeführt. Trotz aller Bemühungen gelang es der Band nicht, den von Letow gewünschten Klang und Effekt der Aufnahme zu erzielen, und Letow beschloss, das Live-Programm der Band aufzunehmen, das einige während der Proben komponierte Stücke enthielt. Die Aufnahme wurde anschließend mit dem Klang des Publikums überlagert. Eines der Ergebnisse dieser Aufnahme war Letows künftige Weigerung, professionelle Aufnahmen zu machen und alle Studioalben von Graschdanskaja Oborona und seinen anderen Projekten wurden zu Hause aufgenommen.«
Quellen: Песни радости и счастья (Wikipedia, Links von mir eingefügt)
Официальная альбомография ГрОб-Records (Webseite ГрОб-Records)
Um an dieser Stellen explizit zu verdeutlichen, was »nach einer Reihe von Alben« in Letows Fall tatsächlich und konkret bedeutet, hier eine Aufzählung der Alben, die er bis er bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung von Песни радости и счастья am 4. August 1989 aufnahm und produzierte.
Das sind mit seiner ersten Band "Посев" die Alben Всякие картинки (1984), Дождь в казарме (1984), Смерч. Летние записи (1984), Reggae, Punk & Rock’n’Roll (1984), Семинар (1985) und Сделай сам (1985)
Mit "Гражданская Оборона" nahm Letow die Alben Психоделия «ТУДЕЙ» (1985), Поганая молодёжь (1985), Оптимизм (1985), Игра в бисер перед свиньями (1986), Мышеловка (1987), Некрофилия (1987), Тоталитаризм (1987), Хорошо!! (1987), Красный альбом (1987), Всё идёт по плану (1988), Так закалялась сталь (1988), Боевой стимул (1988) und Тошнота (1989) auf.
Mit seinem Nebenprojekt "Коммунизм" nahm er bis August 1989 die Alben № 01 bis №11, das sind На советской скорости (1988), Сулейман Стальский (1988), Веселящий газ (1989), Родина слышит (1989), Солдатский сон (1989), Чудо-музыка (1989), Народоведение (1989), Сатанизм (1989), Жизнь что сказка (1989), Лет Ит Би (1989) und (1989) auf.
Schließlich kommen dazu noch 15 Alben mit Projekten und Bands "Кузя Уо", "Чёрный Лукич", "Пик Клаксон", "Великие Октябри" und mit Janka Djagilewa, an denen bzw. für die Letow als Produzent, Komponist, Texter, Sänger und Multiinstrumentalist (Bassgitarre, Gitarre, Schlagzeug) mitwirkte.
Diese Alben nahm Letow in viereinhalb Jahren auf, etliche spielte er mit Gesang, Gitarre, Bassgitarre und Schlagzeug im Alleingang ein.

[7] Домой, Серёга: 200 ЛЕТ ОДИНОЧЕСТВА. Интервью с Егором Летовым, Официальный сайт группы Гражданская Оборона, 29.12.1990.
Domoij, Serjoga: 200 Jahre Einsamkeit. Interview mit Jegor Letow, Offizielle Seite der Gruppe Graschdanskaja Oborona, 29.12.1990.
https://www.gr-oborona.ru/pub/anarhi/1056981372.html
Andrei Tarkowski @Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Andrei_Arsenjewitsch_Tarkowski

[8] Das Tonbangerät Олимп-003 стерео - ein, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann, nicht für sowjetische Verhältnisse sehr gutes Gerät - kam in der Sowjetunion im Jahr 1982 auf den Markt, es wurde ПО имени Лепсе produziert, der heute unter dem Namen ОАО ЭМСЗ Лепсе in Kirow firmiert, einem Mischkonzern des Verteidigungskomplexes zur Herstellung von Elektrogeräten, der auch elektrische Konsumgüter produziert. ОАО steht für "открытое акционерное общество" (Öffentliche Aktiongesellschaft) und ЭМСЗ für "электро­машин­острои­тельный завод" (Elektromaschinenfabrik), der Namensgeber Iwan Leps war ein russischer Revolutionär und hoher Funktionär in der frühen Sowjetunion.

[9] Die улица Петра Осминина, 5 (Pjotr-Osminin-Straße) bei Google Maps, bei 2ГИС und bei Yandex. Der Namensgeber der Straße Pjotr Osminin war Kommandant einer SU-85 Selbstfahrlafette (Selbstfahrgeschütz), die auch als Jagdpanzer eingesetzt wurde, er wurde für einen Einsatz postum mit dem Orden "Held der Sowjetunion" geehrt.

[10] Семеляк, Максим: Кто-то вроде экотеррориста - Егор Летов о внутреннем космосе, застое рок-музыки и будущем человечества. Русская жизнь, 25.05.2007
Semeljak, Maksim: Eine Art Ökoterrorist - Jegor Letow über den inneren Raum, die Stagnation der Rockmusik und die Zukunft der Menschheit Originalquelle (Memento)

[11] Глухов, Дмитрий: Егор Летов: 17 цитат. Роккульт.ру - музыкальное сообщество, 19.02.2017
Gluchow, Dmitrij: Jegor Letow: 17 Zitate. Rokkult.ru - Musik-Community, 19.02.2017
https://rockcult.ru/po/september-10-egor-letov-b-day/
Jurij Schewtschuk @Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Juri_Julianowitsch_Schewtschuk

[12] Алиса показывает: Егор Летов и его самые отборные цитаты. Плюс - что о нем думают знаменитые люди. Дзен — контентная платформа, 3 мая 2020
Alisa präsentiert: Jegor Letow und seine wichtigsten Zitate. Plus - was berühmte Leute über ihn denken. Zen – Content-Plattform, 3. Mai 2020
https://dzen.ru/a/Xq5DRSca3iX8bZiZ
Sergej Kalugin @Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Sergey_Kalugin

[13] Богословский, Роман: Музыка ни в чем не нуждается. Интервью с Сергеем Летовым. Свободная Пресса, Москва, 14 февраля 2016 г.
Bogoslowskij, Roman: Musik braucht nichts. Interview mit Sergej Letow. Moskau, 14.02.2016
https://svpressa.ru/culture/article/142334/
Sergej Letow @Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Sergey_Letov
Sergej Letows Webseite: https://www.letov.ru/BIO.htm

[14] Крылова, Ольга: ОльгаЛюдей не жалко... Неформатная Революция. Московский Комсомолец Бульвар № 42 (126), 18 октября 1999
Krylova, Olga: Menschen sind nicht bedauernswert... Revolution ohne Format. Moskowskij Komsomolez Bulwar Nr. 42 (126), 18. Oktober 1999
http://grob-hroniki.org/article/1999/art_1999-10-18a.html
Margarita Puschkina @Wikipedia:
https://en.wikipedia.org/wiki/Margarita_Pushkina

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